Streitfrage: Wie du im Schulterherein sitzen sollst

Schulterherein Ingrid Klimke
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Das Schulterherein ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Dressurlektionen, die wir unseren Pferden beibringen, für sie da sind und nicht für uns. Nicht umsonst wird das Schulterherein häufig als „Allzweck-Waffe“ oder „Aspirin der Lektionen“ bezeichnet. Das Schulterherein kann dir und deinem Pferd bei den unterschiedlichsten Reitproblemen helfen und die korrekte Ausbildung deines Pferdes maßgeblich fördern.

Dieser Beitrag gibt dir das wichtige Hintergrundwissen, das du für das Schulterherein brauchst. Du erfährst, warum Nuancen bei diesem Seitengang den Unterschied machen und wie du das Gefühl für die richtige Ausführung bekommst. Und: Es gibt da noch einen Knackpunkt!

Und zwar lautet der: Es sind sich nicht alle Reitlehren und – philosophien darüber einig, mit welcher Gewichtshilfe der Reiter in dieser Übung sitzen soll. Die FN sagt da etwas ganz anderes als zum Beispiel die Schule der Légèreté. Beide haben ihre Gründe für ihre Meinung. Zwei bekannte Vorbilder aus beiden Reitweisen sind für die klassische Reitausbildung Ingrid Klimke und für die Légèreté deren Begründer Philippe Karl.

Was ist Schulterherein?

Das Schulterherein gehört aufgrund der Vorwärts-Seitwärts-Bewegung in Stellung und Biegung zu den Seitengängen. Es wird häufig als „Mutter aller Seitengänge“ bezeichnet, da es die Grundlagen für alle weiteren Seitengänge enthält und sich alle Seitengänge aus dem Schulterherein durch Erweiterung oder Variation entwickeln können.

Die Erfindung des Schulterhereins wird François Robichon de la Guérinière zugeschrieben. Er erkannte die Bedeutung der Durchlässigkeit in der Längsbiegung und etablierte den Seitengang in der Reitlehre. Der englische Duke of Newcastle wiederum erfand das Schulterherein auf gebogenen Linien. Anders als es zum Beispiel auch in der H.Dv.12 geschrieben steht, der Heeresdienstvorschrift, auf der auch die Richtlinien der FN (Deutsche Reiterliche Vereinigung) beruhen, plädierte er für ein Schulterherein, das nicht vor der Ecke beendet, sondern auch durch die Ecke und auf dem Zirkel geritten wird.

Was bewirkt das Schulterherein beim Pferd?

Ein korrekt gerittenes Schulterherein gymnastiziert dein Pferd, unterstützt seine Geraderichtung und hilft bei der Ausrichtung der Vor- auf die Hinterhand. Die Lektion veranlasst dein Pferd außerdem, mit dem Hinterbein unter den Schwerpunkt zu treten, verbessert die Beweglichkeit der Schultern und die Lockerheit im Genick. Die Punkte der Ausbildungsskala spiegeln sich im Schulterherein wider und so ist es nicht verwunderlich, dass der vielseitige Seitengang insgesamt die Durchlässigkeit des Pferdes fördert.

Merke: Das Schulterherein ist eine Lektion mit vielen positiven Auswirkungen auf das Pferd. Es eignet sich deshalb nicht nur für fortgeschritten ausgebildete Pferde, sondern auch für frühe Phasen der Ausbildung. Es gibt keinen Grund dir und deinem Pferd die Vorteile und Lösungsmöglichkeiten, die das Schulterherein mit sich bringt, bis zu einer bestimmten Klasse vorzuenthalten. Nutze diese wertvolle Lektion!

Wie sieht ein korrekt gerittenes Schulterherein aus?

Das Pferd ist während der Lektion gleichmäßig entgegen der Laufrichtung gestellt und gebogen. Das Pferd bewegt sich auf drei Hufschlägen, sodass von vorne sozusagen drei Pferdebeine zu sehen sind – Das hintere, äußere auf dem äußeren Hufschlag, das vordere, äußere und das hintere, innere auf dem zweiten Hufschlag und das vordere, innere auf dem dritten Hufschlag. Die Vorderbeine kreuzen, während sich die Hinterbeine geradeaus auf dem Hufschlag bewegen.

Zusatzwissen: Manche Klassiker entnehmen unter anderem den Schriften von Guérinière, dass er das Schulterherein auf vier Hufschlägen veranschlagt hat. Die Hinterbeine kreuzen dabei und man sieht von vorne vier Pferdebeine. Die F.E.I. (Fédération Equestre International) legte anstatt eines Hufschlags einen Winkel von 30 Grad fest, der von dem Großteil der Dressurreiter als ein Reiten des Schulterhereins auf drei Hufschlägen interpretiert wird.

Die Hilfengebung für das Schulterherein – so geht‘s

Das Schulterherein lässt sich sehr gut aus einer Ecke bzw. aus einer Volte heraus beginnen. Die bestehende Stellung und Biegung nach innen kann so in das Schulterherein mitgenommen werden. Als würdest du wieder auf eine Volte abwenden wollen, stellst und biegst du dein Pferd also mithilfe eines Nachfassens des inneren Zügels um den inneren Schenkel. Der äußere Zügel gibt dabei etwas nach, um die Dehnung zu erlauben und ein Verwerfen im Genick zu verhindern. Bei Erreichen der richtigen Stellung gibt der innere Zügel wieder nach, damit das Pferd mit dem inneren Hinterbein unter den Schwerpunkt und an den äußeren Zügel herantreten kann.

Kurz danach verhindert der äußere Zügel das vollständige Abwenden auf die Volte und führt dein Pferd auf dem Hufschlag im Seitengang weiter. Der innere Schenkel bleibt am Gurt und treibt das Pferd sowohl vorwärts als auch die Schulter seitwärts in Richtung des äußeren Zügels. Der äußere Schenkel bleibt verwahrend am Pferd, um sowohl das äußere Hinterbein zum Vortreten zu animieren als auch ein Ausweichen der Hinterhand in Richtung Bande zu verhindern. Beim Beenden des Schulterhereins wird die Vorhand wieder auf die Hinterhand eingestellt – und zwar mit feinen Hilfen ohne einen großen Einsatz der Zügelhilfen.

Über die Gewichtshilfe während des Schulterhereins gibt es eine ähnliche Diskussion, wie über die Menge der Hufschläge, auf denen geritten wird. Die einen tendieren zu der Gewichtshilfe nach innen, also in Richtung der Biegung. Andere plädieren für eine Gewichtshilfe nach außen, sprich in Bewegungsrichtung.

Die Gewichtshilfe im Schulterherein laut der Deutschen Reitlehre (FN)

Hier sitzt der Reiter in die Richtung, in die das Pferd gebogen ist. So zum Beispiel beim Schulterherein auf der linken Hand tendenziell nach links, denn dahin ist das Pferd gestellt und gebogen.

Ingrid Klimke erklärt die Hilfengebung folgendermaßen: „Ich sitze beim Schulterherein auf dem inneren Gesäßknochen. Die innere Hand soll vorfühlen, innerer Schenkel und äußerer Zügel herrschen diagonal vor. Ich würde mich nicht nach außen setzen und vom Pferd erwarten, dass es dennoch mit dem inneren Hinterfuß unter den Schwerpunkt treten soll.“

Übrigens ist das unten stehende Bild mit Ingrid Klimke ein gutes Beispiel dafür, wie ein Schulterherein auf drei Hufschlägen von vorn aussehen soll. Du erkennst, dass rechtes Hinterbein und linkes Vorderbein genau auf gleichem Hufschlag gehen, so dass es von vorn gesehen drei Spuren bzw. Beine sind. Das Pferd ist nach innen gestellt und gebogen. Das Genick sollte noch einen Ticken höher sein, ansonsten ist das Bild ein ziemlich perfektes Beispiel für ein gutes Schulterherein!

schulterherein pferd

Die Gewichtshilfe im Schulterherein in der Schule der Légèreté

In der Schule der Légèreté sitzt der Reiter in Bewegungsrichtung – und damit also nicht in Richtung der Innenstellung im Schulterherein.

Philippe Karl erklärt das in seinem Buch „Irrwege der modernen Dressur“ folgendermaßen: „Da sich das Pferd im Schulterherein in Richtung seiner äußeren Seite bewegt, muss der Reiter nach außen sitzen, um mit dem Gleichgewicht des Pferdes im Einklang zu bleiben.“

Philippe Karl Schulterherein

Alternative: Gleichmäßiges Belasten der Sitzbeinhöcker im Schulterherein

Was richtig ist, kommt in diesem Fall auf die Philosophie an – und auf die Praxis. Andere Ausbilder antworten auf die Gewichtshilfe im Schulterherein, dass es drauf ankommt – je nach Pferd und Situation. Der Reiter grundsätzlich seine Sitzbeinhöcker recht gleichmäßig belasten soll und dann einfühlen soll, wo das Pferd Unterstützung braucht.

Ein versöhnendes Zitat von Altmeister La Guérnière zum Schulterherein, dem wohl vermutlich alle Schulen zustimmen würden:

„Diese Übung hat sofort eine so vortreffliche Wirkung, dass ich sie als die erste und letzte aller Lektionen ansehe, in denen man ein Pferd unterrichten muss, um ihm Geschmeidigkeit und vollkommene Freiheit in allen seinen Körperteilen zu verschaffen.“

„Kann mein Pferd das einfach so?“ – Die Anfänge des Schulterherein

Wie oben erwähnt, kannst du das Schulterherein auch schon mit dem jungen Pferd oder mit einem Pferd auf Anfangsniveau üben. Gewisse Voraussetzungen sollten du und dein Pferd allerdings erfüllen, bevor es losgeht. Wir haben einige Tipps für dich, die dir den Einstieg erleichtern.

Voraussetzungen

Dein Pferd sollte einige grundlegende Hilfen bereits kennen, bevor du mit dem Schulterherein beginnst. Es sollte zum Beispiel prompt auf deine Schenkelhilfe reagieren – vorwärts und seitwärts. Den am Hals angelegten Zügel als Begrenzung der Schulter sollte es annehmen, genauso wie deine halben Paraden und deine Frage nach Stellung und Biegung.

Unter anderem Philippe Karl plädiert dafür, zunächst die einzelnen Aspekte zu erlernen, die du für das Schulterherein benötigst, bevor du mit der Lektion beginnst. Er vergleicht es mit dem Fahrradfahren: Wenn du gelernt hast, mit den Beinen zu treten und dein Gleichgewicht zu halten, der Lenker jedoch blockiert, kann es nicht funktionieren. Hast du zuvor jedoch einzeln geübt, mit dem Lenker richtig zu steuern (zum Beispiel mit Stützrädern), kannst du die einzelnen Fähigkeiten zusammensetzen und das Fahrradfahren gelingt.

Zusatzwissen: Gerade am Anfang gilt es, das Pferd nicht zu überfordern und nur wenige Tritte im Schulterherein zu gehen. Wichtig ist, dass das Pferd den Takt nicht verliert. Lieber beginnst du mit etwas weniger Biegung aber der Takt bleibt erhalten – die Biegung lässt sich durch weiteres Training leichter verbessern als der Takt.

Das richtige Gefühl entwickeln

Entscheidend für dein richtiges Reiten eines Schulterhereins ist, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann dein Pferd die Lektion genauso ausführt, wie sie sein soll. Einige Indizien dafür, wie es sich richtig anfühlt:

  • Bei der richtigen Abstellung siehst du das innere Auge deines Pferdes schimmern – richtige Stellung und Biegung bedeutet nicht, den Kopf deines Pferdes nach innen zu ziehen!
  • Du spürst, dass sich der Rücken deines Pferdes aufwölbt – ein Effekt, der durch das unter den Schwerpunkt tretende Hinterbein und die richtige Anlehnung entsteht.
  • Dein Pferd reagiert auf den äußeren, begrenzenden Zügel – das heißt, dass du das Gefühl hast, dein Pferd sei „bei dir“, es läuft dir nicht über die Schulter weg
  • Dein Pferd tritt flüssig nach vorwärts-seitwärts und bleibt nicht zwischendurch immer wieder quer zur Bande stehen
  • Du spürst, wie dein Pferd kaut, im Genick nachgibt und an deinen äußeren Zügel herantritt

Merke: Vor allem zu Beginn ist ein Beobachter von unten äußerst hilfreich. Er kann dir sofort sagen, wenn deine Haltung oder die deines Pferdes fehlerhaft sind und im Idealfall auch, wie du die Fehler sofort beheben kannst.

Schulterherein Ingrid Klimke

Drei häufige Fehler und wie du sie vermeidest

Erstens: Häufig sieht man ein Schulterherein, das ohne Biegung geritten wird, weil die Hinterhand nach außen ausbricht. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Hinterhand auf dem Hufschlag verbleibt und lediglich die Vorhand nach innen geführt wird, sodass das Pferd sich biegen muss.

Zweitens: Ein weiterer typischer Fehler ist ein Pferd, das aus dem Takt kommt und stockt. Die Ursache ist häufig eine zu starke Abstellung oder Biegung. Der Fokus muss zur Korrektur auf das VORWÄRTS-Seitwärts gelegt und der innere Schenkel vermehrt dazu genutzt werden, um das innere Hinterbein zum Vortreten zu animieren. Zu Beginn kann es hilfreich sein, auf der langen Seite zu bleiben. Erst wenn die Lektion gefestigt ist, kann man sie auf jeder beliebigen geraden und gebogenen Linie reiten.

Drittens: Der dritte häufig vorkommende Fehler ist das Weglaufen über die äußere Schulter. Der Reiter begrenzt die äußere Schulter des Pferdes dabei nicht ausreichend mit seinem Sitz und dem äußeren Zügel. Die Vorderbeine kreuzen weniger, das Pferd tritt nicht mehr mit dem inneren Hinterbein an den äußeren Zügel heran und das Ziel des Schulterhereins wird verfehlt. Hier gilt: Das richtige Gefühl entwickeln (siehe oben) und üben! Halbe Paraden und das Wiederherstellen der korrekten Anlehnung können helfen. Eine weitere gute Übung ist das Anhalten im Schulterherein und das Anschließende Wieder-Antreten-Lassen. So kannst du überprüfen, ob du die äußere Schulter deines Pferdes zu jeder Zeit unter Kontrolle hast.

Insgesamt gilt: Schon ein falsches Tempo, ein unpassend liegender Reiterschenkel oder eine ungeschickte Zügeleinwirkung können ein Pferd bei der Ausübung des Schulterhereins empfindlich stören. Dr. Britta Schöffmann achtet deshalb bei der Erarbeitung und Korrektur der Lektion zunächst vor allem pingelig auf die Hilfengebung ihrer Reitschüler.

Schulterherein am Boden erarbeiten

Das Schulterherein kann dein Pferd nicht nur unter dem Sattel erlernen. Eine gute Möglichkeit ist auch die Erarbeitung vom Boden aus.  So kannst du deinem Pferd die nötige Beweglichkeit und Koordination antrainieren, die es später unter dem Sattel benötigt. Weiterhin ist das Schulterherein an der Hand eine wunderbare Ergänzung zu der Arbeit unter dem Sattel – auch später noch, wenn du die Lektion im Sattel gefestigt hast.

Handarbeit am Boden mit Kathrin Roida

Für Geraderichtung, Versammlung und mehr: Das Schulterherein abwechslungsreich in das eigene Training integrieren

Hast du das Schulterherein einmal korrekt erarbeitet, kannst du es in jede Übungsstunde integrieren. In der Lösungsphase unterstützt es die Gymnastizierung und Losgelassenheit, in der Arbeitsphase ist es, verbunden z.B. mit Volten oder mit einem Wechsel zu Travers oder Renvers, eine Ganzkörperübung für dein Pferd. Gleichzeitig schulst du deine Koordination und die Flexibilität deiner Hilfengebung.

Fazit: Schulterherein ist eine Lektion, an die sich jeder herantrauen sollte

Das Schulterherein ist keine Lektion, die du erst ab Klasse M oder S beginnen kannst und solltest. Dieser Seitengang trägt seine im Beitrag genannten Titel der „Allzweck-Lektion“ etc. zu Recht: Lasse dir diese Unterstützung zur Losgelassenheit, Geraderichtung und Gymnastizierung deines Pferdes nicht nehmen! Es lohnt sich, die einzelnen Voraussetzungen zu erarbeiten und wird dich und dein Pferd in eurer Ausbildung weiterbringen. Nicht umsonst ist das Schulterherein auch eine hervorragende Übung, um die Durchlässigkeit deines Pferdes zu überprüfen. Also: Jetzt wo du die Hintergründe kennst, das nötige Wissen gesammelt und die Profis dabei beobachtet hast wird es Zeit zum Selbst-Umsetzen. Wir wünschen dir ganz viel Freude dabei und eine erfüllte Zeit mit deinem Partner Pferd!

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